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Wir veröffentlichen Pressestimmen zu den Veranstaltungen der Reihe Musik am 13. mit freundlicher Genehmigung der genannten Medien.

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Dr. Ute Harbusch
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Ein überwältigendes Kraft-Akt-Konzert


| Verena Großkreutz

"Musik am 13.": führt Bernd Alois Zimmermanns gigantisches "Requiem für einen jungen Dichter" auf

Die Bänke sind voll besetzt, in den Gängen wird’s eng. Ausnahmezustand in der Bad Cannstatter Lutherkirche! Im mittleren Gang haben sich die drei Klangregisseure des SWR-Experimentalstudios für die Zuspielung der originalen Tonbänder platziert, auf den Emporen warten der Cannstatter Bachchor und das Limburger Ensemble Vocappella auf ihre Einsätze. An der Seite stehen mehrere große Lautsprecher, den Raum vorm Altar haben die Stuttgarter Philharmoniker mit diversen zusätzlichen Musikern wie einem Akkordeonisten und einem Mandolinenspieler sowie einer Jazz-Combo in Beschlag genommen, den Platz dahinter der Konzertchor Darmstadt. Vorm Dirigierpult stehen die Sopranistin Yuko Kakuta und der Bariton Uwe Schenker-Primus, während die zwei Sprecher, Rainer Wolf und Felix Heller, später zwischen Kanzel und Empore hin und her switchen werden. Kirchenkreiskantor Jörg-Hannes Hahn als musikalischer Leiter muss sich ganz schön dünn machen, um sich aufs Dirigier-Podest zu schlängeln. Es ist das „Requiem für einen jungen Dichter“ des deutschen Komponisten Bernd Alois Zimmermann, das so viel Raum braucht. Ein selten aufgeführtes Werk der Avantgarde, in Stuttgart soll es 30 Jahre her sein. Der Aufwand ist immens, die Liste der Sponsoren, die dieses Sonderkonzert der ambitionierten Cannstatter Reihe „Musik am 13.“ unterstützt, deshalb lang.

Es beginnt alles aus dem Nichts. Aus ihm kriecht ein düster vibrierendes, unbestimmtes Crescendo, in das sich leise Detonationen einfügen. Hinein bricht die klare Stimme des Philosophen Ludwig Wittgensteins, der Augustinus zitiert, die Stimme tritt zurück, ein Chor setzt ein, in flächigen dissonanten Reibungen, auf Fragmente des lateinischen Requiem-Texts, unbestimmt, suchend. Bläsertöne und -tontürmungen, gongartige Schläge setzen dunkle Akzente, nach und nach erklingen weitere O-Töne: etwa von Papst Johannes XXIII. auf dem zweiten vatikanischen Konzil 1962, Alexander Dubček während des Prager Frühlings 1968, von Mao Tse-tung, Hitler, Stalin, Goebbels, Churchill. Was sie sagen oder brüllen, wird mehr und mehr überlagert, zu reinem Klang, zu Sprachmusik, aus der sich nur partiell Wortfetzen herauslösen, die man verstehen kann.


Wie die zeitlichen Ebenen schichten sich auch die musikalischen Stränge Stück für Stück übereinander, verdichten sich, werden schlagartig beendet, bevor ein neuer Anlauf genommen wird. Alles zielt auf klangliche überwältigung, die von der Verzweiflung des Komponisten spricht, der mit heterogenen musikalischen Mitteln und Collagen vielsprachiger Textfragmente – aus politischen Ansprachen, philosophischen und literarischen äußerungen – etwas von der Realität des 20. Jahrhunderts einzufangen versuchte. Weswegen auch Jazz und die Beatles im musikalisch pluralistischen Kosmos Zimmermanns ihren Platz haben.


Sein „Requiem“ ist ein Zwitter aus Oratorium, Totenmesse und politischer Agitation. Neben seiner Oper „Die Soldaten“ ist es sein Hauptwerk. Zimmermann begann damit 1967, uraufgeführt wurde es im Dezember 1969, ein paar Monate vor seinem Freitod, den auch drei junge Dichter wählten, die in diesem Requiem zu Wort kommen: Wladimir Majakowski, der sich 1930 eine Kugel in den Kopf schoss, Sergei Jessenin, der sich 1925 erhängte, und Konrad Bayer, der sich 1964 am Küchenherd vergaste. Von ihm stammt eine der zentralen Aussagen des Requiems: „Worauf hoffen? / Es gibt nichts, was zu erreichen wäre, außer dem Tod.“

Dirigent Jörg-Hannes Hahn hält die vielen Stränge der Partitur konzentriert zusammen und koordiniert sie mit mächtiger Gestik. So gelingen die gewaltigen Spannungsbögen, deren letzter in eine sich verdichtende, immer lärmendere Sound-Collage weltweiter Massen- demonstrationen mündet. Dann plötzlich Stille, noch einmal kommt der Dichter Konrad Bayer zu Wort, und dann formieren sich alle zum letzten großen Aufschrei: „Dona nobis pacem!“ („Gib uns Frieden!“). Hier ist das kein demütiges Flehen, wie es am Ende von Vertonungen der katholischen Messe üblich ist, sondern ein anklagendes, aggressives, wütendes Einfordern. Die Akustik der Lutherkirche kam nicht erst jetzt an ihre Grenzen – in einem überwältigenden Kraft-Akt-Konzert, das am Ende lange bejubelt wurde.