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Ausdruck durch Struktur


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Der Organist Thomas Schäfer-Winter spielt „Die Kunst der Fuge“ in der Stadtkirche

Unsere Autorin Ute Harbusch, Foto: Uta Hertel-Vogt

Wer ins Konzert zu einer Gesamtaufführung von Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“ geht, der fragt sich erwartungsvoll: Welchen Zugang wird der Interpret wählen? Welche Zusammenstellung, Auswahl, Reihenfolge der einzelnen Stücke? Nicht zuletzt: Wie wird er wohl die letzte große Tripelfuge beschließen, die unvollendet blieb, weil der Komponist darüber verstarb? Wer vergangenen Mittwoch das Konzert der „Musik am 13.“ besuchte, der wurde überrascht durch eine weitere Frage: Was könnte diese Musik bedeuten wollen? Der Bach-Forscher Wolfgang Wiemer stellte einführend seine theologische Auslegung des Fugen-Zyklus’ vor und lud die Zuhörer ein, Bachs Opus summum et ultimum als Programmmusik zu hören. Diese als objektiv gerühmte oder als mathematisch verschriene Musik sei in Wahrheit „Bachs Credo“ und chiffrierter Ausdruck biblischer Glaubensinhalte.

Im Selbstversuch der anfangs skeptischen Rezensentin ging die angebotene Deutung verblüffend gut auf. Aber auch wenn man der Musik ohne inhaltliches Programm im Hinterkopf folgte, gab es viel zu hören. Der Organist Thomas Schäfer-Winter hatte als vormaliger Bezirkskantor in Bad Cannstatt die Reihe „Musik am 13.“ begründet. Er wählte für seinen Durchgang durch das kolossale, eineinhalbstündige Werk einen analytischen Zugang: Mit differenzierter Agogik, manchmal fast stockenden Rubati und gezieltem Gebrauch des Pedals erreichte er ein Maximum an Durchhörbarkeit. Doch kam über der Konstruktion die Expression nicht zu kurz. Registerfarben, Tempovariationen und wirkungsvolle dynamische Abstufungen erzeugten Abwechslung, aber keine Zerstreuung. Ausdruck wurde durch Struktur hergestellt. So entwickelten sich die vierstimmige Doppelfuge des Contrapunctus 11 und die unvollendete Tripelfuge – Schäfer-Winter ließ sie ins Nichts abbrechen – zu klug disponierten, bewegenden Höhepunkten. Ganz gleich, ob man nun den Gang nach Golgatha beziehungsweise die Offenbarung des Johannes hineinhören wollte oder nicht.