
In der Stadtbibliothek Hannover sah ich vor vielen Jahren eine junge Frau beim Hören einer Schallplatte heftig weinen. Auf meine Frage, ob ich helfen könne, erfuhr ich zwar nicht den Grund ihres Zusammenbruchs, wohl aber, welche Musik sie aufgelegt hatte. Das Lacrymosa aus Wolfgang Amadeus Mozarts Requiem: „Die letzten Töne, die Mozart komponiert hat“.
Dass dieses Werk auch ohne seine oft kolportierten Begleitumstände Bestand hätte, ist unumstritten. Es war richtig von Jörg-Hannes Hahn, im Sonderkonzert der Musik am 13. in der Cannstatter Lutherkirche ein Stück wie Bernd Alois Zimmermanns „Stille und Umkehr“, nicht lange vor dem Selbstmord des Komponisten 1970 entstanden, dieser Prüfung zu unterziehen und dem Requiem voranzustellen. Zimmermann lässt die Stille den Ton d umkreisen (der auch bei Mozart grundlegend ist), ins Innerste horchend, mit komplexer instrumentaler Schichtung über unregelmäßigem Rhythmus. Und prompt kam es, wie es kommen musste: Ein mit lautem Tatütata vorbeibrausender Einsatzwagen machte deutlich, wie es heutzutage um Stille und Umkehr bestellt ist.
Das Mozart-Requiem interpretierte Jörg-Hannes Hahn nicht als mildes Spätwerk und auch nicht so sehr als Todesahnung. Im Dies irae loderte dramatisches Feuer; das nicht mehr von Mozart, sondern dem ersten Requiem-Vollender Franz Xaver Süßmayr geschriebene Sanctus kam in angemessener Breite daher. Dominant jedoch waren enorm schnelle Tempi – der etwaige Heiligenschein wurde überdeutlich vermieden. Chor und Orchester zeigten sich dem gewachsen; bei den tadellosen Solisten hätten die Sopranistin Monika Eder und der Bassist Stephan Loges sich wohl ein wenig mehr Raum zur emotionalen Entfaltung gewünscht, während Julia Böhme und Benjamin Glaubitz ihre schlanken Alt- bzw. Tenorstimmen, an den Maßstäben alter Musik geschult, ganz in den Dienst der objektiven Grundhaltung stellten, die den Abend auszeichnete.
Dass Jörg-Hannes Hahn sich für die Fassung des Mozart-Zeitgenossen Süßmayr entschied, überraschte angesichts der akademisch fundierten Rekonstruktionen des 20. Jahrhunderts – ist aber nicht abwegig. Ich fühlte mich dabei an einen Dirigenten erinnert, der in einem ähnlich umstrittenen Fall (dort ging es um die Oper „Boris Godunow“ in der Fassung von Rimsky-Korsakow) erklärte: „Wir führen diese Version auf, weil sie die schönste ist. Die schönste“.
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