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Den Raum mit „Luftrissen“ und Klängen bespielen


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Ein musikalisches Portrait der Komponistin Carola Bauckholt

Die Komponistin Carola Bauckholt, Foto: Inge Zimmermann

"Bewegung ist ein zentrales Moment der Musik, und ich nehme die Sachen immer sehr konkret." Konkret bedeutet bei Carola Bauckholt auch, dass sie mit Phänomenen arbeitet, die nicht nur in der entstofflichten Welt der Ideen einen Namen, sondern auch eine Entsprechung in der Wirklichkeit haben. In der physischen Realität entsteht kein Klang, ohne dass sich Materie bewegt. Filzhämmer schlagen auf Stahlsaiten, Luft strömt durch Rohre, Türen quietschen, Wasser gluckert im Abfluss. Carola Bauckholts kompositorische Phantasie entzündet sich dort, wo sich Körper bewegen. Jede Bewegung hat eigene Klänge, Rhythmen, Tonhöhen und Lautstärken. Ein hochtouriger Motor klingt höher als ein langsamer, eine Schere besitzt nicht nur einen charakteristischen Sound, wenn die Blätter gegeneinander schaben, sondern auch eine Bewegungsgestalt. Das Hören konkret zu nehmen, bedeutet in den Werken der gebürtigen Krefelderin, dass die Musik nicht nur an der Oberfläche, sondern auch im Kern von konkreten Klangereignissen bestimmt ist. Man hört Scheren, Motoren, Zahnbürsten, Toaster, ICE-Türen, Gasthermen, gurgelndes Wasser und Computerlaufwerke. Allerdings ist das Ausgangsgeräusch, oder besser die gehörte Bewegung, in der Regel nur ein Initialmoment.

Zwar hat sie Werke komponiert, die der Wirklichkeit so nahe kommen, dass sie bewegten Landschaftsgemälden gleichen, wie „Instinkt“ (2007), wo sechs  Sänger den Gesang von Schlittenhunden imitieren, in der Mehrzahl ihrer Kompositionen ist die Mimesis, die Nachahmung der Wirklichkeit, jedoch kein Selbstzweck, sondern löst als Kernmaterial eine Fülle musikalischer Prozesse aus. Dabei spielt es keine Rolle, ob die ehemalige Studentin von Mauricio Kagel mit dem konkreten Quietschen einer Kassettenhülle aus Plastik arbeitet oder ob ein Cello das Schaukeln einer umgekippten Zinkbadewanne imitiert, wie in ihrem konsequent wortlosen Musiktheater „hellhörig“ aus dem Jahr 2008. Einer der zentralen Punkte ihrer Arbeit besteht darin, dass es nicht bei der Imitation bleibt, sondern das einmal gefundene Material kompositorisch weiterverarbeitet wird. Indem Carola Bauckholt die Klanggestalten ihrer akustischen Objets trouvés auf Instrumente überträgt, werden sie im Kompositionsprozess gestaltbar.

Übergänge und Brüche zwischen Realismus und Abstraktion geraten deshalb schon früh in den Fokus der künstlerischen Arbeit. In der frühen Trilogie „In gewohnter Umgebung“ bekommen Toaster Geräusche, die sie nie hatten. Andere "echte" Klänge verwandeln sich unter den Augen und Ohren des Publikums in instrumentales Material und durchlaufen rein musikalische Entwicklungen. Dass in „Voices for Harry Partch“ (2015) historische Sprachaufnahmen über Lautsprecher zugespielt werden, ist eine Ausnahme, ändert aber nichts an der schöpferischen Kraft, mit der sie das starre Material in den Ensemblestimmen weiterverarbeitet. Carola Bauckholt hört in den Alltag. Die Klänge und Geräusche, mit denen sie arbeitet, stammen meist aus ihrer unmittelbaren Umgebung. Während John Cage - eines ihrer erklärten Vorbilder - vor allem das Hören alltäglicher Geräuschwelten und damit den Akt der Wahrnehmung zum Gegenstand der Musik erhob, versteht sich Carola Bauckholt immer auch als Komponistin, die das Material nach ihrem Willen gestaltet.

Dass sie dabei von Bewegungen ausgeht, hat aber nicht nur eine zeitliche Dimension. Bewegungen ereignen sich in Räumen. Eine Kugel rollt von A nach B, Schallsignale verbreiten sich durch die Luft. Klangqualitäten wie Nähe und Ferne oder auch Echos und Hallphänomene sind untrennbar mit der Dynamik der Bewegungen im gegebenen Raum verbunden. Vielleicht misst Carola Bauckholt diesen Parametern auch deshalb eine so große Bedeutung zu, da ihr Weg zur Musik an einem Krefelder Theater begann und ihr Weg vom experimentellen Theater am Marienplatz, wo damals auch Werke von Mauricio Kagel uraufgeführt wurden, an die Kölner Hochschule für Musik führt, wo der Argentinier eine Klasse für Musiktheater unterrichtete. Heute ist Carola Bauckholt in Linz selbst Professorin für Komposition mit Schwerpunkt auf neuem Musiktheater. Ihr Schlagzeugwerk „Der aufgefaltete Raum“ (2015), dessen Geräuschklänge sich durch die Stadtkirche bewegen werden, entstand ursprünglich für ein Freiluftkonzert im Muttental bei Witten, für das die Komponistin die Dauer jedes Schallwegs berechnete, um den Raum mit "Luftrissen" und Klängen zu bespielen, die über die Köpfe des Publikums zischen und sausen. In  Bad Cannstatt ist dieses Werk zum ersten Mal "indoor" zu erleben, allerdings nicht in der genormten Akustik eines Konzertsaals, sondern in der komplexen Klanglandschaft des gotischen Kirchenschiffs.