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Raumwunder


Von

Ein Portrait der Musik von Mark Andre

Der Komponist Mark Andre, ins Bild gebannt von Manu Theobald

Auf Räume ist bei Mark Andre kein Verlass. Vielleicht ist aber gerade diese Unsicherheit ein Kernmoment seines Schaffens. Klangräume sind nicht fest gemauert, vor allem die Räume zwischen den Klängen sind fragil. So bringt das Saxofon im Trio "durch" den Gong, das Tam-Tam, aber auch die Klaviersaiten allein durch die bewegte Luft zum Klingen. Das ist aber noch nicht alles. Bei Mark Andre ist es nicht einmal selbstverständlich, dass sich Musik im irdischen Koordinatensystem dreidimensionaler Orte abspielt. Seine Räume sind Ausnahme-Orte wie die Transitzone eines Flughafens, in der seine Oper "wunderzaichen" spielt. Es sind Orte, an denen weder Landes- noch Naturgesetze gelten. Um diese Zonen der Unberechenbarkeit geht es bei diesem Komponisten. Um nichts weniger als die Überschreitung von Schwellen auf dem Weg in eine andere Dimension. Darin liegt keine Übertreibung. Was Mark Andre in den verborgenen und unzugänglichen Zwischenräumen sucht, sind nichts anderes als Wunder. Seine Arbeit besteht darin, Momente zu provozieren, in denen sich Räume öffnen: im festen Glauben an Gott, mit Hilfe von Technik und durch Kalkül.

Für seine Ensemblekomposition "üg" – einem „sprituellen Roadmovie“ – hat er zusammen mit dem Klangregisseur Michael Acker vom Experimentalstudio des SWR die Hagia Sofia, die byzantinische Hagia Irene und andere, christliche und muslimische Gotteshäuser in Istanbul akustisch vermessen und die Daten anschließend genutzt, um die Akustik der Kirchen in Echtzeit auf den Ensembleklang zu „falten“. Obwohl die Musiker bei der Uraufführung in der Alten Oper in Frankfurt saßen, hörte man – liveelektronisch berechnet und simuliert – das Resonanzverhalten der Hagia Irene. Das funktionierte nicht nur in Frankfurt, sondern erstaunlicherweise auch in der Hagia Irene selbst, wo sich bei der Istanbuler Premiere von "üg" (das Kürzel "üg" steht für Übergang) die Faltungen nicht etwa neutralisierten, sondern sich neue „Zwischenräume“ auftaten und eine „andere Kategorie des kompositorischen Atems“ entstehen ließen, wie Andre 2015 in „Musik-Konzepte“ beschrieb.

Zu Beginn seines Schaffens verließ sich der 1964 in Paris geborene Komponist, der zunächst bei Gérard Grisey studierte, auf Algorithmen und fest gefügte Strukturen. Heute jedoch verwendet er mindestens ebenso viel Sorgfalt auf die Erzeugung kohärenter Systeme wie auf ihre anschließende Zerstörung. Entscheidungen an ein Programm abzugeben, so Andre, provoziere einen Kontrollverlust des Subjekts und öffne „neue Perspektiven“, die sich ihm intuitiv nicht erschlossen hätten. Zugleich stellt sich ihm die Frage, ob man „mit Strukturen arbeiten kann, ohne in postpositivistisches Denken zu verfallen". Er löst den Widerspruch, indem er die Strukturen im Verlauf der Komposition systematisch zersetzt und auf diesem Weg einen neuen „Zwischenraum“ öffnet, den er als die Grauzone zwischen System und Wirklichkeit beschreibt.

Um solche Prozesse musikalisch zu gestalten und zu notieren, reicht das vertraute Koordinatensystem bei weitem nicht aus. Mit Tonhöhen und Dauern lässt sich nur ein Bruchteil des Raumes beschreiben, in dem sich die Musik bewegt. Allein die Differenzierung der Tonhöhe in Mikrointervalle verlangt oft ein eigenes Zeichensystem. Weitere Systeme sind für die Notation von Geräuschen, Klangfarben oder Intensitäten reserviert. Alles will notiert sein: Mehrklänge und Skalen des Übergangs zwischen Luftgeräusch und reinem Ton, ins Instrument gesungene Laute, verschiedenste Arten von Artikulation und Klappengeräusche, der Bogendruck der Streicher, die Position des Bogens. Nicht selten fächert Mark Andre die Beschreibung einer Solostimme wie eine Explosionszeichnung auf mehrere Zeilen auf.

Obwohl die Notation viel Platz beansprucht, richtet sich die Erforschung der Klangräume jedoch nie nach außen, sondern stets nach innen. „introvertiert“, kurz "iv", heißt dieser Dynamik entsprechend eine Werkreihe des heute in Berlin lebenden Komponisten. "iv" ist eine Bewegungsrichtung, sie beschreibt den Weg nach innen und zugleich ins Geistige, in Räume, in denen sich das Klangmaterial auflöst oder „verschwindet“. Musik ist für Mark Andre – darin begegnet er seinem wichtigsten Lehrer Helmut Lachenmann – eine existentielle Erfahrung. Seine Werke erschließen einen Mikrokosmos feinster Regungen, sie versuchen, Schwellen zu überschreiten, Grenzen durchlässig zu machen. Nicht mit der Brechstange, sondern durch Feinarbeit an den dünnen Nervenbahnen des klingenden Materials.